Medizin unterm Regenbogen

  • Studium & Lernen
  • 29.10.2018

Ärzte haben es im Beruf auch mit Menschen zu tun, die nicht der vermeintlichen sexuellen Norm entsprechen. Auf einige Mediziner trifft das auch selbst zu. Wie geht man im Arbeitsalltag offen und sensibel mit diesem Thema um? Das Queerreferat der Berliner Charité will dieser Frage im Studium mehr Gewicht geben.

Jahrzehntelang haben Aktivisten unter der Regenbogen-Fahne dafür gekämpft, dass in Deutschland alle Menschen gleiche Rechte erhalten. Und es hat sich einiges getan: Homosexuelle Liebe ist seit 1994 in Deutschland kein Verbrechen mehr; seit 2006 schützt ein Gesetz Menschen unterschiedlicher sexueller Identität vor Diskriminierung; seit Oktober 2017 gilt die Ehe für alle. Dennoch fühlen sich „queere“ Menschen im Alltag oft falsch wahrgenommen oder herabgesetzt, wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes kürzlich in einer Studie ermittelt hat.

Klara Lebloch

Mitglieder des Queerreferats der Berliner Charité wollen Lehrende und Kommilitonen für das Thema sensibilisieren. Klara Lebloch (24), derzeit im 6. Semester, hat die Gruppe im Herbst 2016 zusammen mit Gleichgesinnten gegründet.

In Wörterbüchern wird „queer“ mit „homosexuell“ übersetzt. Wie verwendet ihr den Begriff?

Wir fassen diesen Begriff viel weiter. „Queer“ ist für uns ein Regenschirm-Wort, unter das alle passen, die nicht der Norm entsprechen: Homo- und Bi-Sexuelle, Transpersonen, Intersexuelle, Asexuelle und andere.

Warum ist es wichtig, Medizinstudierende für verschiedene sexuelle Identitäten zu sensibilisieren?

Es geht uns darum, dass zukünftige  Ärztinnen und Ärzte das Soziale und die Biologie differenziert betrachten. Im Moment ist unsere Ausbildung sehr biologistisch. Zum Beispiel wird vermittelt, dass man von den Chromosomen, den Genitalien oder vom Hormonstatus auf das Geschlecht schließen kann. Geschlecht ist aber auch eine soziale Kategorie, und das sollten Medizinerinnen und Mediziner verinnerlichen. Besonders viel Unwissenheit gibt es aus unserer Sicht über Transgender. Transpersonen können beispielsweise verschiedene sexuelle Orientierungen haben. Wer sich zum Beispiel als Mann identifiziert, muss sich nicht unbedingt zu Frauen hingezogen fühlen. Im Studium kaum behandelt wird auch das Thema Asexualität. Wer kein Interesse an Sex hat, ist nicht krank. Wenn Ärztinnen und Ärzte solche Dinge wissen, fühlen sich queere Menschen bei ihnen besser aufgehoben.

Was sollte sich in der Lehre ändern?

In unserem Modellstudiengang an der Charité gibt es zum Beispiel nur eine einzige Lehrveranstaltung von 45 Minuten, die sich mit sexueller Identität und Transgender befasst. Das würden wir gern ausweiten. Wir wünschen uns außerdem, dass Studierende für Patientengespräche anders geschult werden. Zum Beispiel kann es für einen Schwulen unangenehm sein, wenn man ihn fragt, ob er eine Freundin hat. Es wäre besser, als Ärztin oder Arzt neutral zu formulieren: Leben Sie in einer Beziehung? Wir fänden es gut, wenn die Sprache in medizinischen Lehrveranstaltungen grundsätzlich neutral wäre. Statt „Mann“ oder „Frau“ können Lehrende auch „Mensch“ oder „Person“ sagen.
 

Bunte Republik Deutschland

Statistiken zur sexuellen Orientierung sind mit Vorsicht zu genießen – je nach Umfragemethode und kulturellem Umfeld fallen die Angaben mehr oder weniger verlässlich aus. Eine schriftliche Befragung der TU Braunschweig von 2017 ergab, dass zehn Prozent der Menschen in Deutschland nicht „ausschließlich heterosexuell“ sind. Bei einer internationalen Onlinestudie von 2016 identifizierten sich 7,4 Prozent der Teilnehmer aus Deutschland als queer – der europäische Durchschnitt lag bei 5,9 Prozent.
 

Wer für neutrale Sprache eintritt, wird gern als „Genderpolizei“ kritisiert. Wie steht ihr dazu?

Aus unserer Sicht ist eine diskriminierungsarme Sprache für alle gut. Aber wir sind nicht mit der Moralkeule unterwegs. Jeder Mensch soll das sagen können, was er oder sie denkt. Es ist wichtig, aufeinander zuzugehen.

Habt ihr schon etwas erreicht?

Das Queerreferat gibt es ja noch nicht lange. Wir gehen nach und nach auf die verschiedenen Lehrverantwortlichen zu. Bislang haben wir selbst Workshops auf studentischer Ebene organisiert, unter anderem zum Thema Transgender. Dahin kommen aber nur die Leute, die es ohnehin interessiert – es fehlen diejenigen, die das Thema für irrelevant halten oder die es kritisch sehen. Dabei wollen wir genau diese Menschen erreichen. Das geht nur über Pflichtveranstaltungen.

Eure Gruppe versteht sich auch als Treffpunkt für queere Studierende. Warum ist es gut, so eine Anlaufstelle zu haben?

Bei aller Toleranz leben wir immer noch in einer Gesellschaft, in der Heterosexualität und Cis-Gender – also traditionelle Geschlechterkategorien – die Norm sind. Es ist gut, einen Raum zu haben, wo ich mich als queerer Mensch normal fühlen kann und mich nicht ständig erklären muss. Wo ich Erfahrungen austauschen kann mit anderen, die Ähnliches erleben.
 

Farbe für den Wortschatz

Du blickst nicht durch bei LGBTI oder LSBATIPQQ+? Das Queer-Lexikon definiert Begriffe von A wie „Ace“ bis Z wie „Zugewiesenes Geschlecht“. Unter anderem wird erklärt, warum viele Betroffene den Begriff „transsexuell“ ablehnen. Auf der Seite findest du außerdem Literatur-Links und Videos rund um sexuelle Identität.
 

Wünscht ihr euch, dass Lehrende und Mitstudierende außerhalb der Community anders mit euch umgehen?

In Begegnungen mit Menschen, die man noch nicht kennt, fände ich mehr Offenheit für die andere Seite schön. Zum Beispiel, indem man nicht automatisch davon ausgeht, die Person sei heterosexuell und cis-geschlechtlich, sondern auch andere Varianten mitdenkt: Vielleicht ist mein Gegenüber ja lesbisch oder trans und benutzt womöglich ein anderes Pronomen, als ich ihm zuweisen würde?

Hast du persönlich Angst, später im Beruf diskriminiert zu werden?

Ich bin da sehr positiv eingestellt und gehe davon aus, dass das nicht passieren wird, oder dass es schlimmstenfalls Antidiskriminierungsbeauftragte gibt, an die ich mich wenden kann.

Was sollten Arbeitgeber beherzigen?

An alle Chefinnen und Chefs haben wir einen klaren Appell: Sie tragen die Verantwortung für viele Angestellte, gehen Sie ruhig davon aus, dass einige davon queer sind. Es ist lohnenswert, sich von Schubladendenken zu verabschieden und den Menschen Raum und Individualität zuzugestehen. Denken Sie zum Beispiel über All-Gender-Umkleideräume und -Toiletten nach. Suchen Sie das Gespräch, wenn Sie homo- oder transfeindliche Äußerungen im Team mitbekommen sollten. Zeigen Sie offen, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung in Ihrem Team willkommen sind.