Als Junior mit Senioren arbeiten?

  • Beruf & Karriere
  • 07.03.2019

Viele Senioren bauen nicht nur körperlich ab, sondern entwickeln auch seelische Leiden. Die Gerontopsychiatrie nimmt sich dieser Patienten an. Für junge Ärzte scheint das Gebiet jedoch wenig attraktiv. Wie ist es, psychisch Kranke jenseits der 60 zu behandeln?

Eigentlich klingt das Fachgebiet interessant und vielseitig: „Die Gerontopsychiatrie schlägt eine Brücke zwischen Neurologie und Psychiatrie“, erklärt Dr. Timm Strotmann-Tack, Chefarzt der Gerontopsychiatrie an der LVR-Klinik Viersen im Rheinland. Wer auf diesem Feld arbeitet, braucht neben psychiatrischer Erfahrung auch solide Kenntnisse angrenzender klinischer Bereiche, etwa aus der Inneren Medizin, wo es häufig um Altersleiden wie Diabetes oder Herzerkrankungen geht. Strotmann-Tack und sein Ärzteteam müssen einen Schlaganfall in der klinischen Untersuchung ebenso treffsicher erkennen wie eine beginnende Demenz im Patientengespräch oder in neuropsychologischen Tests.

Vorurteile halten Bewerber fern

Trotz der anspruchsvollen Aufgaben fällt es der Viersener Klinik schwer, ärztliches Personal zu finden – ähnlich wie anderen Krankenhäusern. Der Bedarf für das Fachgebiet Gerontopsychiatrie sei in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen, so der Chefarzt: „Die alternde Gesellschaft ist nur einer der Gründe dafür. Hinzu kommt, dass Demenz und seelische Probleme im Gesundheitswesen heute eine höhere Aufmerksamkeit erfahren.“ Die Klinik schreibt dauerhaft Stellen aus, umgarnt Studierende aus dem Umland, vergibt Stipendien. „Viele junge Ärztinnen und Ärzte in der Psychiatrie wollen grundsätzlich nicht mit älteren Patientinnen und Patienten arbeiten“, sagt der Abteilungsleiter. „Meistens denken sie, dass Menschen jenseits der 60 zu stark geprägt sind, um noch eine Psychotherapie zu machen. Das ist aber falsch.“ Senioren lassen sich mit denselben Verfahren erfolgreich behandeln wie jüngere Menschen.
 

Psychische Probleme im Alter: medizinisch oft komplex

Es gibt vieles, was Senioren aus dem seelischen Gleichgewicht bringen kann: ein Gefühl von Leere nach dem Übergang in den Ruhestand; einschneidende Erfahrungen wie der Tod des Lebenspartners; soziale Isolation und Einsamkeit. Selbst für körperlich Gesunde kann der Lebensabend sehr belastend sein. Aus medizinischer Sicht wird es kompliziert, wenn auch noch somatische Erkrankungen ins Spiel kommen, zum Beispiel Diabetes, Bluthochdruck, eine Lungenentzündung oder ein Tumor. Solche Krankheiten, manchmal auch ihre Medikation, können seelische und geistige Probleme auslösen oder verstärken.
 

Feste Abläufe und Kontakt zu anderen

Auch Berührungsängste spielen eine Rolle: Laut Strotmann-Tack scheuen sich manche Kollegen davor, ständig mit dem Älterwerden konfrontiert zu werden. Und wer schon einmal Demenzpatienten erlebt hat, die sich im regulären Krankenhaus nicht zurechtfinden, über den Flur irren oder gar ausbüxen, wünscht sich solche Probleme möglicherweise nicht tagtäglich. In der Gerontopsychiatrie haben die Erkrankten jedoch eine geschützte Umgebung, in der sie sich besser orientieren und bewegen können. Etwa 40 Prozent der Patienten in Viersen kommen zur Behandlung einer Demenz in die Klinik, weitere 40 Prozent wegen Depressionen und rund 20 Prozent mit einer Psychose oder einer Sucht. Die zwei Stationen mit 32 Betten sind so gut wie immer belegt; im Schnitt bleiben Kranke dort für drei bis vier Wochen. Mit diesen Kapazitäten stößt die Klinik oft an ihre Grenzen; darum soll in Kürze eine weitere Station entstehen.
 

Gedächtnistraining hilft den Patienten dabei, ihre kognitiven Fähigkeiten soweit wie möglich zu bewahren (Foto: iStock/doble-de)
 

Neben den Ärzten gehören Pflegekräfte, Sozialarbeiter und Psychologen zum Team. Die Mediziner erheben die psychiatrischen, körperlichen und neurologischen Befunde, entscheiden über die Behandlung und Medikation. Hand in Hand mit den Psychologen setzen sie zudem psychotherapeutische Einzel- oder Gruppenbehandlungen um. Für viele Patienten, die keine oder allenfalls eine leichte Demenz haben, ist die gerontopsychiatrische Tagesklinik eine gute Alternative zur stationären Behandlung. „Für alleinlebende depressive Menschen zum Beispiel ist es sehr hilfreich, wenn sie tagsüber wieder einen festen Ablauf haben und gleichzeitig in Kontakt mit anderen Menschen kommen“, sagt Strotmann-Tack.
 

Eine Seele von Arzt

Foto: LVR-Klinikum Viersen

Dr. Timm Strotmann-Tack (50) stammt aus Viersen, kehrte aber erst nach längerer beruflicher Wanderzeit in seine Heimat zurück. Als „Arzt im Praktikum“ war er in der neurologischen Forschung am Kölner Max-Planck-Institut tätig. Seine Assistenzzeit absolvierte er überwiegend in der Neurologie der Universitätsklinik Köln. Ein Weiterbildungsjahr in der Gerontopsychiatrie am Evangelischen Krankenhaus Elisabeth Herzberge in Berlin wurde für den jungen Arzt zum Schlüsselerlebnis: Strotmann-Tack blieb sechs Jahre an dieser Klinik, erwarb drei Facharzttitel in Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie und Nervenheilkunde; er stieg zum Oberarzt in der Psychiatrie auf. 2011 zog es ihn zurück an den Niederrhein: erst als Oberarzt nach Krefeld (Klinik Königshof, Alexianer-Krankenhaus), im Juli 2017 dann als Chefarzt ans LVR-Klinikum Viersen.
 

"Norbert, du bist aber dick geworden!"

Zur Therapie gehören neben Gesprächen unter anderem Bewegungsangebote, Ergotherapie oder Gedächtnistraining. Auch für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt entwickeln Ärzte und Therapeuten einen Plan. Psychisch Kranke werden in der Regel ambulant weiterversorgt und im Alltag begleitet. Bei Bedarf können Erkrankte oder ihre Familien eine speziell geschulte häusliche Pflege beantragen, die von der Krankenkasse bezahlt wird.  

In der Klinik trifft sich das interdisziplinäre Team einmal pro Woche zur Visite, um sich über Behandlungsstrategien auszutauschen und mit einzelnen Patienten zu sprechen. „Bei der Visite richten sich viele Augenpaare auf die einzelne Person. Man braucht Feingefühl, damit sich die Patientinnen und Patienten nicht wie vor einem Tribunal fühlen“, betont der Chefarzt. Wo Vertrauen besteht, wird auch gemeinsam über kuriose Momente gelacht. So wie neulich, als eine Demenzpatientin Strotmann-Tack für ihren Bruder hielt und sagte: „Norbert, du bist aber dick geworden!“ Dass ältere Leute gerne Klartext reden, fand der Psychiater schon immer sympathisch. Er merkte bereits als junger Zivildienstleistender im Krankenhaus, dass er gut mit Senioren konnte. „Mir gefällt die Altersweisheit dieser Menschen, wenn sie ins Philosophieren kommen und ein Lebensresümee ziehen“, so der Arzt.

40-Stunden-Woche ist die Regel

Wer Tag für Tag mit seelisch Kranken arbeitet, braucht neben Empathie auch viel Geduld. Aus Sicht des Chefarztes ist die dafür nötige Zeit vorhanden, ohne dass das auf Kosten des Personals ginge. Eine 40-Stunden-Woche mit einem 24-Stunden-Dienst pro Woche ist in der Abteilung die Regel. Auch wenn Strotmann-Tack um die eine oder andere zusätzliche Stelle kämpfen musste, hält er die Bedingungen für sehr human: „Bei uns hat man noch die Muße für Gespräche und für Zuwendung.“