Doktor für die Kleinsten

  • Beruf & Karriere
  • 22.06.2018

Geburtenrekorde, besorgte Eltern, soziale Fragen: Kinderärzte sind heute vielfach gefordert. Dr. Rainer Scheibling praktiziert seit 1991 in Düsseldorf. Für den engagierten Arzt war sein Beruf noch nie so interessant wie jetzt, trotz der hohen Belastung.

Schlaksig und leichtfüßig, wie er ist, könnte man Dr. Rainer Scheibling für einen Langstreckenläufer halten. Bei der Arbeit trägt er immer Sportschuhe. Aber seine Kilometer macht er nicht draußen, sondern in der Praxis. „Das ist ein großer Vorteil meines Berufs. Ich bekomme viel Bewegung“, sagt der Kinderarzt. Rückenschmerzen hat er nur bei Kongressen, weil er dann zu viel herumsitzt. Im Alltag kümmert der 66-Jährige sich um 30 bis 50 Patienten am Tag; inklusive Dokumentation ist oft erst nach zwölf Stunden Feierabend. Aber Scheibling mag es, wenn etwas los ist, er betont, „keinen Bock auf Rente“ zu haben.

Für Trubel ist gesorgt im Kinderarztzentrum (KiZ) Düsseldorf, einer Gemeinschaftspraxis, die Scheibling mit vier Partnern und vier angestellten Assistenzärzten betreibt. Wie anderswo in Deutschland macht es sich bemerkbar, dass wieder mehr Babys geboren werden. In Düsseldorf waren es  2016 laut amtlicher Statistik rund 17 Prozent mehr als 2010. Die meisten Kinder kommen im Stadtteil Kaiserswerth zur Welt. In der dortigen Klinik begann Scheibling 1984 seine Laufbahn als Assistenzarzt in der Pädiatrie. „Ich habe mich für das Fach entschieden, weil ich immer eine gute Antenne für Kinder hatte und weil ich von ihrem ehrlichen Verhalten profitiere“, erzählt er. Auch das breite Wissensspektrum reizte ihn: Kinderärzte betrachten den gesamten Körper in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, vom Frühchen bis zum Teenager.

Jede zweite Frage betrifft soziale Themen 

Das Gesicht der Pädiatrie habe sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewandelt, sie ist noch interessanter geworden, findet Scheibling. Zum einen spielt Prävention heute eine noch größere Rolle; es sind mehr Pflichtuntersuchungen als früher vorgesehen. Zum anderen suchen immer mehr Familien auch dann Rat, wenn es nicht um Gesundheit im engeren Sinn geht: wenn sich ihr Kind schlecht konzentrieren kann, zu wenig schläft, aggressiv ist oder unter Mobbing leidet.

„Ungefähr die Hälfte der Elternfragen dreht sich um diese sozialpädiatrischen Themen“, so Scheibling. „Auch wir Ärzte schauen heute genauer hin als vor 20 Jahren. Zum Beispiel hat man ADHS damals kaum diagnostiziert.“ Einmal wöchentlich setzen sich die Praxiskollegen zusammen und diskutieren schwierige Fälle. Wenn die Ärzte nicht weiterwissen, beziehen sie ein sozialpädiatrisches Zentrum einer der Kinderkliniken in der Region ein, wo spezialisierte Mediziner, Psychotherapeuten oder Logopäden sich gezielter mit den Problemen der Kinder befassen. 
 

"Unser großes Hobby ist die Prävention. Die Stärke der Pädiatrie
gegenüber der Erwachsenenmedizin ist, Krankheiten noch eher vorbeugen zu können."
Dr. Rainer Scheibling

„Wir wollen den Familien natürlich auf jede sinnvolle Art helfen“, erklärt der Kinderarzt. „Manchmal bremsen wir die Eltern aber auch, um unnötige Diagnostik zu vermeiden.“ Mütter und Väter seien deutlich besorgter als früher. „Sie bekommen Druck aus ihrem Umfeld: aus der Familie, von Erziehern, Lehrern oder Nachbarn. Manche möchten ihren lispelnden Vierjährigen schon zum Logopäden bringen, was nicht nötig ist. Meistens raten wir den Eltern, ihren Kindern mehr zuzutrauen und Geduld zu haben.“ Wer sich heute als junger Arzt für die Pädiatrie entscheide, brauche sehr viel Empathie und sollte Freude an der sprechenden Medizin haben.

Eltern beistehen, wenn es ernst wird

Die wirklich schweren Situationen sind die, wenn Diagnosen einmal nicht so harmlos ausfallen. „Als ich in der Klinik anfing, wusste ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn es Kindern schlecht geht und ich sie nicht retten kann. Ich habe das an mich herangelassen und meinen Weg gefunden, die Familien zu begleiten“, erzählt der Arzt, der vor seinem Medizinstudium bereits als Krankenpfleger mit sterbenden Patienten zu tun hatte. „Erwachsene negieren den Tod oft bis zuletzt. Ein Kind spürt das nahende Ende oft schon Tage vorher - und sagt das dann auch. Betroffene Eltern habe ich dann vorsichtig auf so eine Situation vorbereitet, damit sie nicht zu entsetzt reagieren und ehrlich mit ihrem Kind reden.“ Vor allem der Rückhalt seiner Kollegen hilft Scheibling dabei, mit solchen Schattenseiten seines Berufs umzugehen.

Den Familien in jeder Lage gerecht zu werden, ist für das Praxisteam ein Kraftakt. Zu Spitzenzeiten gleicht das KiZ einem Akkordbetrieb. Die Grippesaison in diesem Jahr sei besonders übel gewesen, gesteht Scheibling. Doch danach gefragt, was er sich von der Politik wünscht, klagt er nicht über das Arbeitsvolumen. Er schließt sich dem Appell pädiatrischer Verbände an, Kinderrechte im deutschen Grundgesetz zu verankern, wie sie in der UN-Konvention formuliert sind. Dann hätten zum Beispiel minderjährige Flüchtlinge ein unverhandelbares Recht, ihre Eltern nachzuholen; nur so könnten sie Scheiblings Meinung nach gesund aufwachsen. Geht es nach ihm, sollte der Staat außerdem Impfungen gegen Masern und Keuchhusten vorschreiben – Krankheiten, die auch seinem Team wieder häufiger begegnen.

Von Übeln wie den Masern ganz abgesehen: In kaum einem anderen Bereich kommen Ärzte mit so vielen Hust- und Schnief-Erregern in Kontakt wie in der Pädiatrie. Als Scheibling jünger war, habe es ihn öfter erwischt, wie er sagt. „Aber jetzt ist mein Immunsystem so abgezockt, dass ich kaum Probleme habe.“ Richtig krank gewesen sei er das letzte Mal im Herbst 2008. Vielleicht verdankt er das auch seinem täglichen Fitnessprogramm.
 

Babyboom und Nachwuchssorgen

792 000 Neugeborene gab es laut Mikrozensus 2016 in Deutschland, so viele wie zuletzt 1996. Der Kindersegen führt neben anderen Faktoren dazu, dass immer mehr pädiatrische Praxen am Limit arbeiten, wie der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) kritisiert. Knapp 5.800 niedergelassene Pädiater übernehmen die Grundversorgung – nur rund 200 von ihnen sind unter 40 Jahre alt. Einer von vier niedergelassenen Kinderärzten steht an der Schwelle zum Rentenalter. Verbände wie der BVKJ fordern unter anderem größere Spielräume für Praxen, zusätzliche Ärzte einzustellen und Kassensitze zu teilen. Das würde die Arbeitszeiten flexibler machen. Was auch deshalb relevant ist, weil vor allem Frauen in den Beruf streben: 2017 betrug ihr Anteil unter den frisch anerkannten Pädiatern stolze 77 Prozent.