Vater Bergmann, Tochter Ärztin

Mit Kopftuch, ohne Akademiker-Eltern: Studentinnen wie Nadja Feddahi sind unterrepräsentiert an deutschen Hochschulen (Symbolbild)
  • Beruf & Karriere
  • 03.07.2018

Herkunft ist Zukunft. Wirklich? Nadia Feddahi, aus Gelsenkirchen, geboren in Marokko, ist 36 Jahre alt. Im kommenden Jahr wird sie ihr 2. Staatsexamen in Humanmedizin ablegen. Ihr Vater war Bergmann, ihre Mutter ist Hausfrau. Sie selbst hat zwei Töchter. „Bildungsfern“ nennt man ein Elternhaus wie das von Nadia Feddahi gerne. Ihre Geschichte zeigt, welche Hürden zu bewältigen sind, um trotz ungleicher Startchancen ambitionierte Berufswünsche zu verwirklichen.

Noch immer unterscheidet sich der akademische Werdegang von Akademiker- und Arbeiterkindern in Deutschland stark. Es scheint, als stammten sie aus getrennten Welten: Lebenseinstellung, Geldbeutel und Bildungschancen weichen deutlich voneinander ab. „Auch die Sprache, der Habitus, das Selbstvertrauen ist bei Akademikerkindern ganz anders ausgeprägt als bei Arbeiterkindern unter den Erstsemestern“, sagt Julia Kreutziger von der Organisation „ArbeiterKind“, die Studierende berät.
 

Beunruhigende Zahlen

Laut dem Deutschen Hochschul-Bildungsreport 2017/2018, herausgegeben vom Stifterverband und der Beratung McKinsey, zeigt sich die Ungleichheit im deutschen Bildungswesen schon früh:  Wer aus einer Arbeiterfamilie stammt, besucht seltener das Gymnasium. Während nur  21 von 100 Nicht-Akademikerkindern ein Studium beginnen, sind es beim Nachwuchs gebildeterer Eltern mit 74 von 100 fast zwei Drittel. Den Master-Abschluss erreichen nur acht von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Haushalten, aber 45 von 100 Akademiker-Töchtern und Söhnen. Bei den Promotionen fällt der Vergleich noch deutlicher aus: Jedes zehnte Akademikerkind schafft es bis zur Promotion, aber nur jedes 100. Arbeiterkind.

 

"Es sind oft die kleinen Dinge“, bestätigt Nadia Feddahi. „Ich kann nicht meinen Vater fragen, wo ich den besten Platz für ein Pflegepraktikum finde. Denn mein Vater war Bergmann und kein Arzt. Meine Eltern können mich nicht beraten, welche Facharztweiterbildung für mich vielleicht in Frage käme, welche Bücher ich am besten lesen sollten – und welche Fehler man leicht vermeidet.“

Lange Wege zur Bildung

Feddahis Weg begann so, wie es dem Klischee vom Mädchen aus einfachen Verhältnissen entspricht. Nach der 10. Klasse ging sie vom Gymnasium ab und lernte Einzelhandelskauffrau in einem Drogeriemarkt. „Die totale Unterforderung, würde ich heute sagen“, kommentiert sie. Bei der Abschlussprüfung war sie bereits mit ihrer ersten Tochter schwanger, bald darauf kam das zweite Kind. Als beide Mädchen im Kindergarten waren, wollte Feddahi wieder arbeiten –  fand aber wegen ihres Kopftuches keine Stelle, wie sie berichtet.

Spitzen-Abitur und erfolgreich an der Uni:
Nadia Feddahi

Ihre Alternative: das Abendgymnasium. Zehn Jahre nach dem Verlassen des Gymnasiums setzte sich die damals 28-Jährige wieder auf die Schulbank. Obwohl sie, wie sie sagt, „zuerst nicht einmal eine einfache Gleichung lösen konnte“ schaffte Feddahi den Sprung nach ganz oben. Als Jahrgangsbeste schloss sie mit einem Abi-Notenschnitt von 1,1 ab. Damit gehört sie im Vergleich zu Akademikerkindern zu einer Minderheit. "Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder", sagt zum Beispiel Volker Meyer-Guckel, der stellvertretende Generalsekretär des Stifterverbandes. Nur ein geringer Teil von ihnen beginnt danach noch ein Studium.

Die Zahlen sprachen also gegen akademische Blütenträume von Nadia Feddahi. Aber in Ausbildung und Abendgymnasium hatte sich gezeigt: Feddahi ist begabt und energisch, vielleicht begabter und energischer als andere. Und so entschloss sie sich, Medizin zu studieren. „Ich konnte immer gut mit Menschen“, berichtet sie, „deshalb habe ich zuerst auch an ein Lehramtsstudium gedacht. Aber schließlich bin ich bei der Medizin hängen geblieben.“

Das größte Problem: die Finanzierung

Für die Finanzierung aber musste sie sich andere Quellen als ihre Kommilitonen aus begüterten Elternhäusern erschließen. Das ist die vielleicht größte Herausforderung für studierende Arbeiterkinder, so Julia Kreutziger von ArbeiterKind. „Die Eltern können das Studium in der Regel nicht bezahlen und für viele Arbeiterkinder sind Begriffe wie BAföG oder Stipendium sehr fremd. Sie wissen oft nicht, wo und wie sie zum Thema Finanzierung recherchieren sollen.“ Deshalb betreibt ArbeiterKind an vielen Schulen und Universitäten Beratungsstellen, die bei der Suche  nach Förderung unterstützen.

BAföG hat Nadia Feddahi nie bezogen, dafür profitiert sie gleich von zwei Begabten-Förderungswerken: Von der Studienstiftung des deutschen Volkes erhält sie ideelle Förderung, zum Beispiel durch Sprachkurse. Außerdem bekommt sie Unterstützung von der Heinrich Böll Stiftung. „Ich haben leider lange gezögert, mich für ein Stipendium zu bewerben“, sagt Feddahi. Wie viele andere Arbeiterkinder hatte sie das Gefühl, ein Stipendium sei etwas für Überflieger und Akademikerkinder. „Ich weiß auch nicht, warum ich so dachte. Heute rate ich allen: Macht es! Versucht es! Es kann klappen!“ Um ihr Budget aufzustocken, verdient sie zudem mit einem Uni-Job noch monatlich 450 Euro dazu. „Insgesamt komme ich so über die Runden.“

Was sie für die Zukunft plant, nach der Dissertation, an der sie derzeit sitzt? Klar, sie wird Ärztin sein. Ob aber als Professorin in den USA oder als Landärztin irgendwo in der deutschen Provinz – das sei noch offen, sagt Nadia Feddahi. Ihren Bildungshunger indessen hat sie längst weitergegeben. Die älteste Tochter macht bald Abitur. Berufswunsch: Ärztin.

 

„Wir verschenken wertvolles intellektuelles Potenzial!“

Dieter Timmermann, Präsident des Deutschen Studentenwerkes, meint, es sei ein „beunruhigendes Merkmal“ des Deutschen Bildungssystems, dass es die Chancen-Ungleichheit zementiere und dadurch wertvolles intellektuelles Potenzial verschenke. Er kritisiert deshalb auch die Richtlinien für die Bafög-Vergabe: „Gerade die Lebensbedingungen der Studierenden, die 30 Jahre und älter sind, sind mit Belastungen verbunden, die das BAföG nicht abdeckt“, sagt Timmermann. „Analysen der Lebenshaltungs­kosten zum Beispiel zeigen, dass das BAföG weder die Lebenswirk­lichkeiten der Studierenden abbildet noch das lebenslange Lernen an den Hochschulen fördert.“