Schubert statt Schichtdienst

Foto: ©Nina Altmann
  • Leben & Finanzen
  • 11.02.2019

Kurz vor dem ersten Ton schließt Wibke Voigt noch einmal die Augen, atmet tief ein und aus. Äußerlich wirkt sie völlig ruhig, doch innerlich spürt sie trotz mehr als 45 Jahren Erfahrung in zahlreichen Orchestern die Nervosität. Dann geht es los: Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, komprimiert in der Fassung „Ring ohne Worte“ von Lorin Maazel. Für die nächsten drei Stunden wird die Profimusikerin, die hauptberuflich als Chefärztin eine Suchtklinik leitet, eins mit ihrer Querflöte.

Auf diesen Abend in der Elbphilharmonie in Hamburg hat sich die 60-Jährige zu Hause in Dortmund lange vorbereitet. Wie den Orchesterkollegen – allesamt Ärzte wie sie – liegen ihr die Noten der Musikstücke bereits seit Wochen vor. Denn auf die Konzerte vorbereiten müssen sich die Mitglieder des World Doctors Orchestra (WDO) allein. „Vor Ort haben wir dann nur noch drei gemeinsame Tage für das Feintuning, damit auch im Zusammenspiel alles perfekt harmoniert“, sagt Voigt.
 

Highlight im Konzertkalender: Das Orchester im Sommer 2018 in der Elbphilharmonie (Foto: ©Christoph Müller)

 

Querflöte statt Äskulapstab

Das WDO ist ein einzigartiges Projekt: Hier musizieren Ärzte aus aller Welt zusammen für den guten Zweck. Mehr als 1.200 hauptberufliche Mediziner aus 50 Nationen spielen in dem Ensemble, das weltweit Benefizkonzerte gibt. Seit seiner Gründung 2008 hatte das Orchester 26 Auftritte in 17 Ländern. Die eingespielten Erlöse wurden in den jeweiligen Gastgeberländern in lokale medizinische Hilfsprojekte investiert.

Prof. Dr. Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité und bis heute Dirigent des Ärzteorchesters, erinnert sich gut an das Gründungsmotiv: „Wir wollten klarmachen, dass wir über die individuelle Patientenversorgung hinaus für die Gesundheitsversorgung in der Welt eintreten – gerade in einer Zeit, in der die Ungleichheit immer größer wird“, sagt der ehemalige Rektor der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. Bis heute hat das Orchester für gute Zwecke insgesamt eine Million Euro eingespielt.
 

Stefan Willich, der Dirigent des WDO, hat das Orchester 2008 mitgegründet (Foto: ©Stefan Socaciu).


 

Wibke Voigt ist seit dem ersten Konzert 2008 dabei, Willich selbst lud die Medizinerin damals ein. Mit ihrer Zusage zögerte sie nicht lange, denn von den Hilfsprojekten des WDO war die Psychotherapeutin sofort überzeugt. Besonders Hilfsmaßnahmen in Ländern, in denen es an medizinischer Versorgung mangelt, liegen ihr am Herzen. Die schönsten Erinnerungen an einen Auftritt verbindet sie deshalb mit einem Konzert in Rumänien vor gut zwei Jahren: „Dort haben wir ein Hilfsprojekt in den entlegenen Karpaten initiieren können, in dem Menschen mit Epilepsie telemedizinisch behandelt werden.“ Ohne die Unterstützung des WDO wäre das wohl nicht realisiert worden.

Die Verbindung von Sinfonie und Therapie schätzt Voigt auch bei der Behandlung ihrer Patienten: „Eine Musiktherapie ist in vielen Fällen hilfreich, zum Beispiel bei traumatischen Erlebnissen.“ Oft genüge einfaches Trommeln oder Singen, um die Emotionen traumatisierter Patienten zu lösen. Auch künftig möchte sie im WDO ihre beiden Passionen verbinden und so die Versorgung von Patienten weltweit verbessern. Die nächsten Gelegenheiten dazu stehen vor der Tür: Gerade erst war das Orchester in Israel zu Gast, im Sommer sind Auftritte in Frankreich und den USA geplant.
 

Diese Geschichte stammt aus der Print-Ausgabe 01/2019 von Richard, dem Kundenmagazin der apoBank. Im aktuellen Heft findest du noch viele Stories mehr, zum Beispiel über die Feminisierung der Medizin, eine Hirnforscherin mit Hirntumor und einen Arzt, der eine Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung betreibt.